Meldungen des Jahres 2016
Fußball als Geschichte – Die Zeitschrift „11FREUNDE“ widmet dem DDR-Fußball eine Sonderausgabe
Das seit dem Jahr 2000 erscheinende Magazin „11FREUNDE“ ist die inzwischen bedeutendste Publikation auf dem deutschsprachigen Zeitschriftenmarkt, wenn es um Themen und Fragen zur Fußballkultur geht. Darin sind auch immer wieder Beiträge zur Geschichte des Fußballs in der DDR zu finden, etwa über das Nach- und Überleben der Traditionsvereine in den jungen Bundesländern, die komplexe Fanszene, akute Probleme in den Stadien, die kulturellen bzw. sozialen Faktoren im Fußballkomplex oder biografische Porträts früherer Oberliga-Spieler. Diese Mischung macht „11FREUNDE“ spannend, lesbar und hintergründig, gerade für jene, die der Sportart in kritischer Sympathie verbunden sind und sich vor allem für Aspekte hinter den astronomischen Ablösesummen interessieren. „11FREUNDE“ erscheint monatlich und schaut nicht vordergründig auf Ergebnisse, Stars und Transfersummen, sondern wagt ausgedehnte Blicke unter und hinter die Oberfläche des Fußballgeschäfts, zeigt unbekannte Perspektiven inner- und außerhalb der Stadien (auch international) und wird dabei regelmäßig historisch, ohne pathetische oder nostalgische Untertöne zu strapazieren.
Der Blick nach Osten zurück wird nun mit der Spezial-Ausgabe „DDR. Fußball im Wilden Osten“ erweitert. Das Heft beginnt mit der Suggestivfrage, wieso das kollektive Fußballgedächtnis im wiedervereinten Deutschland den DDR-Fußball – und damit seine Erfolge, Persönlichkeiten und Traditionen – weitgehend ausklammert, oft sogar eher als Fremdkörper denn als Bestandteil versteht oder wertschätzt. Sind DDR-Länderspiele überhaupt gültig für die gesamtdeutsche Statistik, kann man auf Sporterfolge einer Diktatur stolz sein und was aus dem Fußballleben der DDR besitzt heute noch Vorbildcharakter?
In seinem Essay erkundet Christoph Dieckmann, selbst Edelfan des FC Carl Zeiss Jena, die geschundene ostdeutsche Fußballseele, die immerfort am Desinteresse und der Ignoranz der gegenwärtigen Sportwelt leidet, obwohl sich doch viele Fußballfreunde – von der Ostsee bis ins Erzgebirge – sehnsüchtig und lebhaft an Duelle mit europäischen Spitzenmannschaften erinnern. Die Folgen sind mitunter eine diffuse Widerstandshaltung, Ohnmacht über verlorene Größe sowie Abwehr gegenüber fremden Spielern und neuen Fußballmächten. Im reich und farbenfroh illustrierten Heft blättert und liest man gerne weiter über Lebensläufe, Höhepunkte sowie Abgründe des DDR-Fußballalltags. Zu den innovativen Beiträgen gehören Texte zum einzigen schwarzen Fußballspieler in der DDR Anfang der 1960er Jahre, dem kämpferischen Versuch von Union Berlin-Fans im Jahr 1981, eine eigene Hobbyfußballliga zu gründen, oder den rauschhaften Europapokalerlebnissen von Lokomotive Leipzig anno 1987. Neben weitgehend unbekannten Facetten begegnet man mitunter redundanten Einschüben oder längeren Interview-Strecken mit Fußball-Legenden des Ostens. Auswahlkicker Harald Irmscher steuert beispielsweise Privataufnahmen von Länderspielreisen und Fotos abseits des Sportplatzes bei. Dem Tod des in die Bundesrepublik geflüchteten Lutz Eigendorf 1983 nähert sich eine mehrseitige Darstellung als Graphic Novel. Die engen Verknüpfungen zwischen Politik und Sport schildern mehrere Beiträge, etwa zum Netz von Inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit beim FC Magdeburg, den Doping-Plänen bei Abonnement-Meister BFC Dynamo oder zwei Geisterspielen zwischen Amateurauswahlteams der DDR und der Bundesrepublik 1959. Daneben kommen Erinnerungen von Fans vor, die ihre Fußballleidenschaft bis 1989 nur bedingt ausleben konnten. Eine reizvolle Lektüre ist der Bericht der Autorin Christa Moog über die Ost-Berliner Fankultur, der Mitte der 1980er Jahre aus Zensurgründen in der DDR nicht erscheinen durfte.
Manchen Beiträgen und Reportagen hätten mehr Tiefe in der Darstellung sowie fundierte Quellenangaben gut getan, was man sich von einem Sonderheft zu einem Sonderthema wohl wünschen darf. Die thematische Wunschliste an zusätzliche und genauere DDR-Fußball-Fragen wäre freilich noch lang, obwohl der Buchmarkt zur DDR-Fußballkultur mit Erinnerungen ehemaliger Spieler, Trainer und Akteure momentan boomt. Trotz der 130 Heftseiten bleibt somit vieles episodisch und wirkt fast abgeschnitten zugunsten von seitenfüllenden Fotos.
Die wehmütige Frage, weshalb der „Ost-Fußball“ – außer mit enormer Sponsorennachhilfe in Leipzig – aktuell kaum konkurrenzfähig ist, geschweige denn an ruhmreiche Europapokalerfolge anknüpfen kann, beantwortet sich nur indirekt im Heft. Eine ehrliche Teilantwort wäre wohl, dass die umworbenen Spieler eben nicht länger als nötig in Chemnitz, Magdeburg, Rostock oder Jena bleiben, sondern so schnell als möglich Verträge in Leverkusen, Dortmund, Hamburg oder München abschließen, um dort erstklassig oder zumindest finanziell hochrangig zu spielen. Kaum ein junges Talent bleibt gegen den Rat seiner Berater oder aus sentimentalen Gründen wie Tradition oder Heimatverbundenheit im „Wilden Osten“. Der Ausklang der Spezialausgabe gibt eine Replik darauf, warum die Fußballszene im Osten zumeist an schmerzhafter Bedeutungslosigkeit leidet. Im kurzen Porträt über den ehrgeizigen Sammler von DDR-Fußball-Devotionalien, der in der Nähe von Dessau ein eigenes Privatmuseum betreibt, zeigt sich, wie der DDR-Fußball weiterhin als Projektionsfläche für den einstigen Kampf um Medaillen und internationale Trophäen dient. Ähnlich wie andere Themen der DDR-Geschichte gerät auch die Fußballhistorie schnell zum Kuriositätenkabinett mit skurrilen Klubnamen, banalen Klischees oder einseitigen Mythen. Eine beklagenswerte Wirkung entsteht: Der DDR-Fußball ist ein abgeschlossenes Sammelgebiet, kaum integrierbar in eine gemeinsame Fußball- bzw. Sportgeschichte aus Ost und West.
Immerhin: Die DDR-Fußballgeschichte scheint als Forschungsgegenstand gerade erst entdeckt worden zu sein, denn Sporthistoriker aus verschiedenen Einrichtungen rekonstruieren seit 2014 und im Auftrag des DFB den DDR-Fußball nochmals umfassend.
Für alle Interessierten hier der Blick auf den Inhalt der Sonderausgabe von „11FREUNDE“, die 6,90 Euro kostet und im Zeitschriftenhandel erhältlich ist: http://www.11freunde.de/heft/11freunde-spezial-ddr
Foto: „DDR. Fußball im Wilden Osten“, aktuelle Sonderausgabe der Zeitschrift „11FREUNDE“ / Quelle: GWS
Ausgewählte Literaturhinweise zum Thema DDR-Fußball in der „Gerbergasse 18“:
- Heinz Voigt: Aufräumen im FC Carl Zeiss Jena ist angesagt. Die Stasi-Verstrickungen von Fußballfunktionären in Jena, in: Gerbergasse 18, Ausgabe 3/1997 (Heft 6), S. 14-19.
- Hanns Leske: 20 Jahre Einheitsfußball. Die Hintergründe für die Misere des ostdeutschen Fußballs in der Marktwirtschaft, in: Gerbergasse 18, Ausgabe 4/2009 (Heft 55), S. 31 f.
- Thomas Purschke: Stasi-Belastungen im Nordostdeutschen Fußballverband, in: Gerbergasse 18, Ausgabe 3/2010 (Heft 58), S. 27.
- Michael Kummer: Warum der SC Motor/FC Carl Zeiss Jena nicht nach Gera verlegt wurde. Der Jenaer Fußball zwischen dem VEB Carl Zeiss und der SED-Bezirksleitung Gera, in: Gerbergasse 18, Ausgabe 2/2013 (Heft 67), S. 29-33.
- Rainer Erices: Überwachung vom Feinsten. DDR-Zuschauer bei der Fußballweltmeisterschaft 1974 in der Bundesrepublik, in: Gerbergasse 18, Ausgabe 3/2014 (Heft 72), S. 22-27.